Mitfühlende Körper, mitfühlende Köpfe – Die Heilkraft des Mitgefühls für Körper und Geist

In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung zunehmend erkannt, dass Mitgefühl weit mehr ist als eine moralische Tugend oder eine soziale Emotion. Es handelt sich um ein tief verwurzeltes biologisches und psychologisches System, das unser Wohlbefinden maßgeblich beeinflusst. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass mitfühlende Motivation direkt mit unserem autonomen Nervensystem verbunden ist und essenzielle physiologische Prozesse wie die Herzratenvariabilität (HRV) beeinflusst.

Dieser Artikel basiert auf einem Auszug aus dem Kapitel Compassionate Bodies, Compassionate Minds – Psychophysiological Concomitants of Compassion-Focused Therapy von Nicola Petrocchi und Cristina Ottaviani aus dem Buch Integrating psychotherapy and psychophysiology von Patrick R. Steffen and Donald Moss. Die im Folgenden beschriebenen Fallstudien stammen ebenfalls aus diesem Werk.

Die Evolution des Mitgefühls: Mehr als nur eine Emotion

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen. Unsere evolutionäre Entwicklung ist geprägt von Bindung, Kooperation und der Fähigkeit zur Fürsorge. Schon Charles Darwin erkannte, dass sich psychologische Fähigkeiten im Laufe der Evolution aus Anpassungen an die Umwelt entwickelt haben. In diesem Kontext ist Mitgefühl nicht nur eine zufällige Eigenschaft, sondern ein überlebenswichtiges Motivationssystem, das aus dem Fürsorgesystem entstanden ist.

Studien zur sozialen Gehirnhypothese zeigen, dass unser Gehirn besonders auf zwischenmenschliche Verbindungen ausgerichtet ist. Der myelinisierte Vagusnerv, ein zentraler Bestandteil des parasympathischen Nervensystems, spielt eine entscheidende Rolle in unserer Fähigkeit zur Beruhigung, zur Empathie und zur Stressbewältigung. Eine gut regulierte vagale Aktivität ermöglicht es uns, mit Belastungen umzugehen, sozial zu interagieren und emotionale Sicherheit zu erleben.

Herzratenvariabilität (HRV): Ein Spiegel unserer emotionalen Regulation

Die HRV beschreibt die Fähigkeit des Herzens, sich flexibel an wechselnde Bedingungen anzupassen. Eine hohe HRV ist ein Zeichen für eine gesunde emotionale und körperliche Regulation, während eine niedrige HRV oft mit Stress, Angststörungen oder Depressionen assoziiert wird.

Wie beeinflusst Mitgefühl die HRV?
Studien zeigen, dass Mitgefühl eine der effektivsten Methoden zur Steigerung der HRV ist. Besonders das Training des Mitgefühls (Compassionate Mind Training, CMT) hat positive Effekte auf die HRV, indem es das parasympathische Nervensystem aktiviert. Dies führt zu einem Gefühl der Sicherheit und verbessert die Emotionsregulation.

Beispielsweise haben Studien gezeigt, dass bereits das bewusste Fühlen von Mitgefühl – sei es für sich selbst oder für andere – die HRV signifikant erhöht. Im Gegensatz dazu kann reine empathische Resonanz, also das Mitempfinden des Schmerzes eines anderen, ohne eine Handlung zur Linderung, die HRV senken. Dies verdeutlicht den Unterschied zwischen Empathie (das Mitfühlen von Leid) und Mitgefühl (das aktive Engagement zur Linderung von Leid).

Der Zusammenhang zwischen Mitgefühl, Sicherheit und psychischer Gesundheit

Das Gefühl von Sicherheit ist ein zentraler Aspekt unserer psychischen Gesundheit. Unser Nervensystem reagiert unterschiedlich auf Sicherheit und Bedrohung:

  • In einem sicheren Umfeld aktiviert der Vagusnerv beruhigende Prozesse, die Herzfrequenz wird stabilisiert, Stresshormone werden reduziert und das Gehirn kann flexibler auf Herausforderungen reagieren.
  • Bei wahrgenommener Bedrohung hingegen wird das sympathische Nervensystem aktiviert, was zu einer Erhöhung der Herzfrequenz, einer Verringerung der HRV und einer stärkeren Fokussierung auf mögliche Gefahren führt.

Diese Mechanismen sind nicht nur für akute Stressreaktionen relevant, sondern auch für psychische Störungen wie Angst, Depression oder Traumafolgestörungen. Menschen, die häufig in einem Zustand der Unsicherheit oder Selbstkritik verweilen, zeigen oft eine chronisch niedrige HRV. Hier setzt das Mitgefühlstraining an, indem es gezielt Sicherheit vermittelt und das parasympathische Nervensystem aktiviert.

Fallstudie (verkürzt): Frank und der Verlust sozialer Sicherheit

Frank, ein Lehrer, erlebte immer wieder depressive Episoden, die er zunächst auf seine Mobbing-Erfahrungen in der Kindheit zurückführte. Erst in einer mitgefühlsbasierten Therapie (CFT) erkannte er, dass nicht die Erinnerungen an das Trauma seine Stimmungsschwankungen verursachten, sondern der Verlust seines sozialen Netzwerks. Als er seine vertraute Schule verließ, setzte ein Gefühl der Einsamkeit ein, das unbewusst eine Bedrohungsreaktion in seinem Nervensystem auslöste. Durch gezielte Visualisierungsübungen, in denen er sich wieder in einem sicheren Umfeld vorstellte, konnte er seinen emotionalen Zustand regulieren und neue Strategien entwickeln, um soziale Sicherheit in seinem Leben wiederherzustellen.

Mitgefühl als therapeutisches Werkzeug

Mitgefühl ist nicht nur eine Emotion, sondern eine gezielt trainierbare Fähigkeit, die weitreichende positive Effekte auf die psychische und physische Gesundheit hat. Therapeutische Ansätze wie die Compassion-Focused Therapy (CFT) nutzen Mitgefühl als Kernstrategie, um emotionale Regulation zu fördern und psychische Erkrankungen zu lindern.

Fallstudie (verkürzt): Julia und das Wiedererlangen von Selbstmitgefühl

Julia, die unter einer bipolaren Störung litt, hatte große Angst davor, sich mit ihrem depressiven Selbst zu konfrontieren. Durch die Vorstellung, dass sie nicht allein war, sondern mit vielen anderen Menschen, die ähnliche Ängste erlebten, verbunden war, konnte sie den Zugang zu sich selbst wiederfinden. Dieser Perspektivwechsel stärkte ihr Selbstmitgefühl und erleichterte den therapeutischen Prozess.

Fazit: Mitfühlende Körper, mitfühlende Köpfe

Mitgefühl ist eine kraftvolle Ressource, die unser Nervensystem beruhigt, emotionale Resilienz stärkt und tiefgreifende therapeutische Effekte entfalten kann. Die Verbindung zwischen Mitgefühl und der HRV zeigt, dass unser Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden sind. Wer Mitgefühl für sich selbst und andere kultiviert, fördert nicht nur psychisches Wohlbefinden, sondern stärkt auch die eigene physiologische Widerstandskraft gegenüber Stress und Herausforderungen.

Die Wissenschaft bestätigt, was viele spirituelle Traditionen seit Jahrtausenden lehren: Mitgefühl ist heilsam – für uns selbst, für unsere Mitmenschen und für die gesamte Gesellschaft. 💙

(Quellen: Petrocchi, N., & Ottaviani, C., Compassionate Bodies, Compassionate Minds – Psychophysiological Concomitants of Compassion-Focused Therapy,  in Integrating psychotherapy and psychophysiology, Patrick R. Steffen and Donald Moss (2023))

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